Dienstag, 31. Mai 2011

Planet der Lügner

"Guten Morgen Patoria, es ist ein wunderschöner Tag! Entrollt eure Tentakel und Raus aus den Federn. Das Tagwerk ruft!" Mit diesen Worten reißt mich eine aufdringliche Stimme aus dem Refugium meiner Träume.
Ich wälze mich zum Radio und suche vergeblich nach dem Ausschalter. Dabei stoße ich das Gerät vom Nachtschrank und zufrieden vernehme ich, wie es durch den Aufprall verstummt. Ruhe, diese herrliche Ruhe. Wie gerne würde ich noch ein paar Minuten liegen bleiben, doch ich muss in die Fabrik, ich darf meinen Job nicht verlieren. Ich zwinge mich aufzustehen und taumle schlaftrunken durch mein kleines Einzimmerapartment. Ich stelle verwundert fest, das ich in meiner Arbeitskombination geschlafen habe, schon wieder! Ist das alles, was von meinem Leben geblieben ist? Wie in Trance betätige ich den Sensor für die Fenstersteuerung. Die Scheiben werden transparent und geben den Blick frei auf die grauen Klötze von Patoria City. Beton, Glas und Stahl wo hin das Auge blickt. Es regnet und wie jeden Tag liegt ein dichter Rauchschleier über dem städtischen Industriegebiet. Gleiter, Shuttles und Transportschiffe jagen wie rastlose Insekten vorüber. In diesem Moment würde ich den freundlichen Moderator aus dem Radio gerne in einem der Hochöfen rösten. Was soll an diesem Tag denn wunderschön sein? Schnell wähle ich an der Fenstersteuerung ein zufälliges Program aus. Kurzdarauf durchflutet ein warmes violettes Licht den Raum und ich blicke auf einen malerischen Sonnenaufgang an einer mir unbekannten naturbelassenen Küste. Zweifellos eine Computeranimation, den unbefleckte Natur gibt es auf diesem Planeten schon lange nicht mehr. Ein bitteres Lächeln schleicht sich leise auf meine Züge. Manchmal ist der Schein das einzige was uns auf dieser tristen grauen Welt am Leben hält. Wir verbergen uns hinter Mauern aus Illusionen und glauben kompromisslos an die Wahrheit, welche uns die Oberen diktieren. Die Wahrheit, pah! Hier auf Patoria ist das gleichbedeutend mit einem schlechten Witz der niemals endet, einer Farce, einem faden Theaterstück, einem Song der in den Ohren schmerzt. Doch alle Welt klatscht Beifall. Wofür eigentlich? Dafür das wir tagtäglich ausgebeutet werden? Dafür, das wir im herrschenden Zweiklassensystem dorthin geschoben werden wo unser gesellschaftlicher vorbestimmter Platz ist? Oder ist das auch nur eine Flucht in den sicheren Hafen der Apathie.
Kenne Deinen Platz! Begehre auf und du trägst die Konsequenzen, doch verhältst du dich unauffällig dann kann dir nichts passieren.
Das hat man uns schon seit Kindertagen eingetrichtert. Welch unumstößliche Logik! Ohne Taten kann nie irgendetwas passieren. Das Leben läuft weiter in den von anderen vorbestimmten, tristen  Bahnen.
Mein Blick schweift zu der spartanisch ausgestatteten Küchenzeile. Hunger verspüre ich keinen doch nach einigem Zögern gieße ich heißes, graues Wasser auf Kräuter in einer Tasse. Melissen-Tee.
Einer meiner wenigen Freunde hat ihn mir geschenkt. Er sagt das Zeug stamme von einem Planeten mit Namen Erde mit dem unsere Welt handelt treibt. Der exotische Geschmack umspielt meinen Zungen und lässt mich träumen. Ob es auf dieser Erde anders ist als bei uns? Wie eine bittere Pille schlucke ich diese Möglichkeit samt Melissen-Tee herunter. Überall die gleichen Lügen, selbst in meinen Träumen.
Gedanken verloren verlasse ich meine Wohnung, fahre mit dem Fahrstuhl ins Erdgeschoss und begegne meiner Nachbarin, die gerade mal wieder ihre Kinder anschreit. Ich wünsche ihr einen schönen Tag mit dem festen Wissen, dass sie den mit Sicherheit nicht haben wird. Sie unterbricht ihr Gezeter und wünscht mir einen angenehmen Arbeitstag. Diese Heuchlerin, sie weiß genau, das ich im Stahlwerk als Schmelzer arbeite und jeder Tag tausend Toden gleicht. Ich nicke ihr und den Kindern freundlich zu, ziehe den Kragen meiner Kombination enger und die Kapuze tief ins Gesicht, dann trete ich hinaus in den Regen, in eine Welt voller Lügner.

4 Kommentare:

  1. Ha! Ein neues Geschreibsel, UND dann auch noch von Patoria. Schön! Ein bisschen sehr zynisch, aber nachvollziehbar.
    Bei dem ominösen "Melssien-Tee" musste ich zugegebenermaßen echt überlechen ;)

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  2. @Citara
    Ich? Zynisch? Nie! ;D
    Ich versuche ab sofort den Blog wieder öfter zu Füttern. Mal schauen.

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  3. Cool, cool. Herrlich zynisch. Kann das aber sein, dass die Küchenzeile spartanisch ist?

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  4. Erinnert mich an so manchen Tag... ^^ Wobei ich aber kein Schmelzer bin... ;-)
    Sehr schön! :-)

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Immer schön freundlich! Wer spamt oder rumnörgelt landet schneller im imperialen Papierkorb, als er Hesy-Sa-Neb-Ef sagen kann. ;-)